Mittwoch, 26. Juni 2013

Chancen erkennen, die das Leben uns bietet

Mein Telefon klingelte. Am Apparat war Herr Güttgemanns. Er wolle in der Alten Lederfabrik einiges umbauen und hätte diverse Auflagen, den Brandschutz betreffend und bat mich, ihm zu helfen. Das war im Jahr 2002. Einige Monate später erfuhr ich von einer kulturellen Veranstaltung in der Alten Lederfabrik. Ich ging hin - und war überrascht. Nachdem ich einige Galerien passiert hatte, blieb ich erst einmal im Obergeschoss “hängen”. Dort spielte eine gute Band. Dieser jazzige Groove gefiel mir ungemein. Danach schlenderte ich durch verschiedene Ateliers, nahm einen Snack zu mir und trank ein schönes Glas Rotwein. Ich bin vielleicht nicht der absolute Kunstfreak, aber die Atmosphäre gefiel mir. Alles war irgendwie “sympathisch urig”. In den vergangenen Jahren habe ich noch einige weitere Events in der Alten Lederfabrik besucht. Jetzt wollte ich mehr über die Hintergründe erfahren und traf mich vor kurzem mit dem Eigentümer, Herrn Jens M. Güttgemanns. 

Udo Michaelis: “Herr Güttgemanns, könnten sie ein wenig über die Historie der Alten Lederfabrik erzählen?”
Jens M. Güttgemanns: “Mein Großvater gründete die Lederfabrik 1912. Im Jahre 1914 erwarb er das Grundstück Alleestr. 64-66, welches bis zum Ende der Zwanziger Jahre bebaut wurde. Mein Onkel Egon führte die Firma von 1926 bis 1979. Ich löste ihn zu einem Zeitpunkt ab, wo das Geschäft alles andere als einfach war. Nach dem Großbrand 1978 musste der Betrieb wieder völlig neu aufgebaut werden. Trotzdem gelang es zunächst, in unserer Marktnische einen bedeutenden Marktanteil zu erzielen. Unsere Produktpalette umfasste Treibriemen, Rundbänder, Mappenleder, Schultaschen, sowie Hundehalsbänder und -leinen. Ein Großabnehmer war das Militär, das wir mit Koppelzeug belieferten. Unser Betrieb geriet ins Schlingern, als nach der ‘Wende’ von 1989 traditionelle Märkte weg brachen und bislang an uns vergebene Aufträge an subventionierte Lederfabriken in der ehemaligen DDR gingen. Nur die Sparte der Hundesportartikel hielt den Betrieb noch aufrecht, bis er 1993 ganz eingestellt werden musste.”

“Wie entstand die Idee, Ateliers und Galerien für Künstler einzurichten?”
Atelier von Christoph Kasper“Die Idee kam nicht spontan. Es traten Ereignisse ein, die ich als ‘Fügungen’ bezeichnen möchte. 1993 lernte ich den Diplom-Designer Matthias Poltrock kennen, der Räumlichkeiten für seine künstlerische Arbeit suchte. Später erfuhr ich, dass die Goldschmiedemeisterin Katrin Sielmann eine Schmuck-Werkstatt einrichten wollte. So vermietete ich ihnen die erforderlichen Räume, die ich extra nach ihren Vorstellungen erstellte. 2001 wurde ein Event organisiert, wo die beiden ihre Arbeiten einem größeren Publikum vorstellen konnten. Diese Veranstaltung war ein voller Erfolg. Mit einem derartigen Andrang kulturinteressierter Leute haben wir nicht gerechnet. Es war der Beginn eines Künstlertreffpunktes.”

“Von damals zwei bis heute über 30 Künstler ist eine beachtliche Entwicklung. Haben Sie nach dem Erfolg der Veranstaltung die Werbetrommel gerührt, um weitere Künstler in die Alte Lederfabrik zu holen?”
Galerie von Jörg Spätig“Das war gar nicht nötig. Die Vermietung weiterer Ateliers war danach ein Selbstläufer. Immer mehr Künstler fanden den Weg zu uns. Eine Parzelle nach der anderen wurde eingerichtet. Ein Kunstverein wurde gegründet. Es fanden regelmäßig Veranstaltungen statt, die vom Publikum sehr gut angenommen wurden. Eine sehr gute Resonanz brachte beispielsweise die “Designernacht’, bei der auch auswärtige Künstler ihre Darbietungen zum Besten brachten. Die Besucher kommen sogar aus Bremen, Hannover und dem Ruhrgebiet.”

“Leben in Halle überhaupt so viele Künstler, die sich Räume in der Alten Lederfabrik anmieten können?”
“Nicht alle kommen aus Halle. Wir haben Künstler aus Bielefeld, Dissen und fast dem gesamten Kreis Gütersloh. Neben unseren Ateliers und Galerien gibt es zwei Fotostudios, ein Tonstudio und eine Initiative, die Musikunterricht anbietet. Manche Künstler leben ausschließlich von ihrer Arbeit, einige sind semiprofessionell tätig, wieder andere betreiben es als Hobby.”

“Seit kurzem gibt es auch eine städtische Galerie.”
Städtische Galerie“Genau, sie wurde am 1. Juni 2008 eröffnet. Die Stadt Halle hat schon seit längerer Zeit ein wohlwollendes Interesse an unseren kulturellen Veranstaltungen gezeigt. Die Räume für Kunst und Kultur waren früher in unserer Gegend knapp bemessen. Es ist aber der Wunsch der Stadt, hiesige Künstler zu unterstützen. Jetzt hat man durch die städtische Galerie in der Alten Lederfabrik ein sichtbares Zeichen dafür gesetzt. Bei der Eröffnung sagte unsere Bürgermeisterin, Frau Anne Rodenbrock-Wesselmann: ‘So eine Szene könnte man in Berlin vermuten - wir haben sie.’ Dadurch erleben wir eine win/win Situation: Gut für die Künstler und gut für das Ansehen unserer Stadt.”

Garten der Alten Lederfabrik (Gestaltung Christoph Kasper) “Gibt es etwas Besonderes in naher Zukunft?”
(Anmerkung: Da ich die Interviews dieser Reihe bereits im Jahr 2008 geführt habe, liegt die genannte Aktion inzwischen natürlich in der Vergangenheit.)

“Vom 28. September bis 31. Oktober 2008 findet bei uns die Aktion ‘KunstOrt Garten’ statt. Knapp 20 Künstler zeigen hier ihre Exponate. Beworben haben sich über 80 Künstler. Daher hat eine Jury aus Künstlern und Galeristen ihre Auswahl unter den Bewerbern getroffen.”

“Wenn Sie rückblickend die Ereignisse betrachten, was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?”
Atelier von Sabine Ehlers“Ich erwähnte bereits, dass die Errichtung der Ateliers anfangs von mir keineswegs bewusst gesteuert wurde. Es hat sich durch eintretende Ereignisse gefügt. Nachdem mit der Lederfabrik Schluss war, hätte ich mir nicht vorstellen können, eine Gerberei zu vermieten. Sicherlich wäre es auch äußerst unwahrscheinlich gewesen, einen Mieter für das gesamte Objekt zu finden. Die Lösungen liegen eben oft in nicht in den Bereichen, die wir vordergründig wahrnehmen. Das Leben bietet uns die Chancen. Unsere Aufgabe ist es, diese zu erkennen und zu verwirklichen.”

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